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Der 9. Oktober 1989 – Erinnerung und Vermittlung

Detlev Brunner, Prof. Dr., ist Direktor der Forschungsstelle Transformationsgeschichte, Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Deutsch-deutsche Zeitgeschichte, Transformationsgeschichte und die Geschichte sozialer Bewegungen.

Detlev Brunner

Am 9. Oktober 1989 demonstrierten mehr als 70.000 Menschen in Leipzig. Ihre Demonstrationsroute führte um den inneren Stadtring, ohne dass die DDR-Staatsmacht sie behelligte und eingriff – ein Novum. Es war die sechste Montagsdemonstration seit dem 4. September des Jahres, dem Tag, an dem sich eine noch kleine Schar von 1.200 Menschen von der Nikolaikirche aus auf den Weg machte, um gegen die Diktatur und für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Zwei Tage zuvor, am 7. Oktober und damit dem 40. Jahrestag der DDR, hatten Volkspolizisten und Staatssicherheit in Berlin Demonstrierende zusammengeknüppelt und misshandelt. Doch in Leipzig kapitulierte die Staatsmacht: Selbst SED-Hardliner schreckten davor zurück, gegen 70.000 Menschen mit Gewalt vorzugehen.

Ein städtischer Gedenktag

Der 9. Oktober 1989 gilt als Wendepunkt in der Friedlichen Revolution von 1989. Es sei ein „Tag der Entscheidung“ gewesen, so der frühere Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, Rainer Eckert, ein Tag, an dem „Weltgeschichte“ geschrieben worden sei (Eckert 2009: 223). Trotz dieser Bedeutung rangierte (und rangiert) der 9. Oktober erinnerungskulturell hinter dem 9. November 1989, jenem Tag, als die Berliner Mauer geöffnet wurde. Der „Fall“ der Mauer war eigentlich das Resultat „einer Verwaltungspanne“ (Eckert 2009: 222) – der berühmte „Versprecher“ Günter Schabowskis, des ZK-Sekretärs für Agitation und Propaganda und Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung Berlin. Er hatte in einer Pressekonferenz neue Reiseregelungen verkündet und auf Nachfragen fälschlicherweise angegeben, dass diese sofort gültig seien. Die Folge: Massen versammelten sich an den Berliner Grenzübergangstellen und die überforderten DDR-Grenzsoldaten öffneten die Mauer (Brunner 2022: 21). Bei aller Konkurrenz zwischen den beiden Erinnerungsdaten lässt sich sicher festhalten, dass der 9. November ohne den 9. Oktober undenkbar gewesen wäre.

Die Erinnerung an dieses Ereignis hat in Leipzig einen hohen Stellenwert. Seit 2009, dem 20. Jubiläum des 9. Oktober, wird der Tag mit einem Lichtfest begangen – inspiriert von den Kerzen der Leipziger Demonstrierenden am 9. Oktober 1989 und dem Vorbild der französischen Partnerstadt Lyon. Dort wird alljährlich ein Lichtfest in Erinnerung an die Pestepidemie im 17. Jahrhundert gefeiert.

Seither prägt ein „Dreiklang“ des Erinnerns das Gedenken: das Friedensgebet in der Nikolaikirche, das schon zu DDR-Zeiten in den 1980er Jahren veranstaltet wurde, eine Rede zur Demokratie, gehalten von prominenten Personen aus Politik und Kultur, und schließlich das Lichtfest selbst. In diesem Rahmen gruppieren sich zahlreiche Veranstaltungen, Kunstperformances, Konzerte und Lichtinstallationen im innerstädtischen Raum, die Leipziger Museen und Gedenkstätten öffnen ihre Türen. All dies wird zum einen getragen von städtischen Einrichtungen, zum anderen vor allem von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich seit 1989/90 mit Bezug auf die Friedliche Revolution gebildet haben. Die Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989“ sticht dabei heraus; sie hat sich 1999 als lockerer Verbund zusammengefunden und fungiert als Knotenpunkt im Netz der städtischen Einrichtungen und Vereinigungen. Sie hat die bisherigen Lichtfeste maßgeblich mitorganisiert und berät die Stadt Leipzig und den Stadtrat.

Bei aller Vielfalt und allem bürgerschaftlichem Engagement stellten sich in jüngster Vergangenheit auch Fragen zur Zukunft des Gedenkens und einer möglichen Neukonzeption des Tages. Am 15. September 2021 fasste die Ratsversammlung der Stadt Leipzig deshalb den Beschluss „Lebendige Auseinandersetzung mit der Friedlichen Revolution“. Demnach sollten „Ziel, Inhalt und Struktur“ der Veranstaltungen, der Formen und Orte des „Bewahrens der Werte der Friedlichen Revolution“ mit wissenschaftlicher Begleitung „betrachtet und evaluiert“ werden. Das Ergebnis sollte die Grundlage für ein „langfristiges Konzept“ des Gedenkens an die Friedliche Revolution und für die Erinnerungskultur in Leipzig bilden (Evaluierung 2024: 10f).

Die Evaluierung der Leipziger Erinnerungskultur

Auf dieser Basis nahm im Herbst 2023 ein Team der Forschungsstelle Transformationsgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig und des Leipziger Instituts für Heimat- und Transformationsforschung die Arbeit an einer „Evaluierung der Institutionen und Maßnahmen zur Erinnerung an die Friedliche Revolution vom Herbst 1989“ auf. Untersucht wurden 17 Leipziger Vereine und Institutionen auf ihre Aktivitäten und ihren Anteil am Erinnern an den 9. Oktober im Zeitraum von 2014 bis 2023. Dazu wurden Expert:innen interviewt und Materialien wie Jahresberichte oder Besucherbücher ausgewertet. Unter den untersuchten Einrichtungen waren neben der bereits genannten Initiative „Tag der Friedlichen Revolution“ auch das von Mitgliedern der Leipziger Bürger- und Oppositionsbewegung 1991 ins Leben gerufene „Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.“, das im Oktober 1990 gegründete „Soziokulturelle Zentrum Frauenkultur e.V. Leipzig“, das Stadtgeschichtliche Museum und das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig (ZFL). Mit dabei war auch das 1989 gegründete „Bürgerkomitee Leipzig e.V.“, Träger für die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, der ehemaligen Stasi-Bezirksverwaltung.

Bei der Untersuchung der verschiedenen Träger und ihrer Akteur:innen kristallisierte sich eine Herausforderung für die zukünftige Erinnerungskultur heraus: die Vermittlung der Geschichte an Menschen, die die Geschehnisse der späten 1980er und frühen 1990er Jahre nicht selbst erlebt haben oder die aus Erinnerungsräumen stammen, in denen die „Wendezeit“ und die Geschichte der Teilung und der Einheit Deutschlands kaum bekannt sind.

„Es reicht nicht mehr aus, zu sagen: ‚Da sind Menschen in großer Zahl in Leipzig auf die Straße gegangen‘, sondern man muss sagen: ‚Gegen wen? Warum? Was kam danach? Und was war davor?‘“, so die langjährige Bildungsreferentin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, Annett Meineke (Evaluierung 2024: 171). Angemahnt wird eine stärkere Kontextualisierung sowohl durch die Vorgeschichte als auch die Zeit nach „der Wende“. Welchen Stellenwert hat der Gedenktag – soll er „nur“ der Erinnerung dienen? Oder ist es erforderlich, die Geschichte der Friedlichen Revolution stärker „in die Gegenwart und Zukunft“ zu erzählen?, so der Wunsch des Direktors des Stadtgeschichtlichen Museums, Anselm Hartinger (Evaluierung 2024: 137). Zu prüfen sei jeweils: „Was hat das mit meiner Gegenwart zu tun?“ Uta Bretschneider vom Zeitgeschichtlichen Forum empfiehlt, sich an den Bedürfnissen „des sich ständig wandelnden Publikums zu orientieren“ (Evaluierung 2024: 174). Die Erinnerung an den 9. Oktober und die historische Vermittlung müssen also der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt Rechnung tragen.  

Die Resonanz auf das Lichtfest ist über die Jahre groß geblieben. In den Jubiläumsjahren 2014 und 2019 erreichten die Besucherzahlen Spitzen mit jeweils über 70.000 Personen. In den Jahren 2020 bis 2022 waren die Zahlen Pandemiebedingt deutlich zurückgegangen, 2023 wurden 15.000 Besucher:innen gezählt (Evaluierung 2024: 181).

Wer besucht das Lichtfest, was sind die Gründe, was die Erwartungen? Eine Fragebogenaktion zum 9. Oktober 2023 suchte nach Antworten. Zwischen dem 9. und 19. Oktober 2023 füllten insgesamt 360 Personen entweder online (141) oder schriftlich auf Papier (219) einen Fragebogen aus, der am 9. Oktober 2023 verteilt wurde bzw. über einen QR-Code online abgerufen werden konnte. Das Ergebnis ist angesichts der begrenzten Zahl zwar nicht repräsentativ, es bietet jedoch Anhaltspunkte.

Bei der Verteilung der Altersgruppen zeigt sich, dass vor allem die Angehörigen der „Erlebnisgeneration“ (50 Jahre und älter) das Lichtfest besuchten; dieser Altersgruppe gehörten 52 Prozent an. Einen großen Anteil nahm auch die jüngste Generation ein: 26 Prozent waren zwischen 11 und 27 Jahre alt (Evaluierung 2024: 185). Das Lichtfest zieht vor allem Menschen aus Leipzig und Umgebung an. Knapp zwei Drittel der Befragten (64 Prozent) kamen aus Stadt und Region. Mehr als ein Viertel der Befragten (27 Prozent) kam aus anderen Bundesländern und etwas mehr als vier Prozent aus dem Ausland (Evaluierung 2024: 186). Dieser geringe Anteil könnte darin begründet sein, dass der Fragebogen nur auf Deutsch zur Verfügung stand, was Personen ohne Deutschkenntnisse vermutlich von der Teilnahme abhielt.

Als Motiv für den Besuch des Lichtfestes gaben jeweils die Hälfte und mehr der Befragten an, dass es ihnen wichtig sei, an die Ereignisse von 1989 erinnert zu werden (57 Prozent) und sie es als Möglichkeit sähen, „die Werte vom Herbst 1989 in die Gegenwart und Zukunft zu übertragen“ (50 Prozent) (Evaluierung 2024: 190). Der überwiegende Teil der Besucher:innen (90 Prozent) wünschte sich als Schwerpunkte künftiger Lichtfeste weiterhin das Erinnern an die Ereignisse vom Herbst 1989 sowie die Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen im Sinne eines Transfers der Werte von 1989 auf die Gegenwart. Damit korrespondiert der Wunsch nach Demokratieförderung als Schwerpunkt der Lichtfeste, den ebenfalls knapp 90 Prozent der Befragten äußerten (Evaluierung 2024: 192).

Zukünftige Erinnerungsarbeit

Wie bereits aus dem Kreis der Einrichtungen und Vereine betont, wird die Verbindung zwischen der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Herbstes 1989 und dem heutigen demokratischen Engagement auch von den befragten Besucher:innen hervorgehoben.

Die Erinnerungsarbeit sollte, so die Empfehlung des Evaluierungsteams, inhaltlich fortlaufend aktualisiert werden, „um die Relevanz der historischen Prozesse des Herbstes 1989 für jüngere Generationen zu dokumentieren sowie die Ziele und Werte der Friedlichen Revolution – Freiheit und Demokratie – lebendig und gegenwärtig zu halten“ (Evaluierung 2024: 1). Dabei ist es erforderlich, den Blick auf den Herbst 1989 deutlich zu erweitern, denn die Leipziger Stadtgesellschaft – und nicht nur sie – unterliegt einem beständigen Wandel: Zu nennen sind vor allem der Wandel der Generationen – von der „Erlebnisgeneration“ über die „Wendekinder“ und „Nachgeborenen“ hin zu den noch nachfolgenden Generationen – sowie der Wandel durch Migration. Dieser Wandel erfordert Veränderung, um Menschen erreichen zu können, für die die Geschehnisse 1989/90 lange in der Vergangenheit zurückliegen oder die aus anderen Erinnerungsräumen kommen. Für die Vermittlung gilt es deshalb, migrantische Perspektiven sowie generell Generationen und Gruppen mit einzubeziehen, die die Ereignisse der Friedlichen Revolution nicht selbst erlebt haben, um so auch die Erfahrungen dieser Zielgruppen anzusprechen.

Leipzig sollte sich „als bedeutender Ort der deutschen und europäischen Demokratiegeschichte“ stärker als bisher profilieren und sich weniger als „Heldenstadt“ inszenieren. Stattdessen sollte die Stadt das Repräsentative der Leipziger Vorgänge für die demokratische Revolution betonen und die bisherige Vernetzung mit osteuropäischen Gedenkorten, darunter die Partnerstädte Gdansk und Kiew, intensivieren, um auch überregional und auf der europäischen Ebene stärker wahrgenommen zu werden.

Die Kooperation zwischen den Akteur:innen der Leipziger Erinnerungskultur sollte verbessert werden. Eine digitale Plattform könnte die bisherigen und zukünftigen Aktivitäten rund um das Lichtfest umfassend dokumentieren und der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich machen. Dies schafft Synergieeffekte und verbreitert die Wirkung. Besonders für medienaffine Jugendliche und Interessenten außerhalb Leipzigs würde eine digitale Präsenz die Orientierung erleichtern. Da sich die bislang dezentrale Zuständigkeit für das Gedenken an den 9. Oktober „oft als eingeschränkt effizient und konfliktträchtig“ erwies (Evaluierung 2024: 2), empfiehlt das Projektteam die Einrichtung einer dauerhaft finanzierten Stelle, die die vorhandenen Aktivitäten und Potenziale noch besser koordinieren könnte.

Der 9. Oktober 1989 in Leipzig symbolisiert wie kaum ein anderer Tag die Friedliche Revolution in der DDR. Die Diktatur kapitulierte vor den demonstrierenden Massen. Dieses demokratische Vermächtnis sollte in der Erinnerungspolitik deutlich stärker als bisher verankert werden, es ist zugleich eine Mahnung, auch zukünftig für Freiheit und Demokratie einzustehen.

Literatur

Brunner, Detlev: Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren, Stuttgart 2022.

Eckert, Rainer: Der 9. Oktober: Tag der Entscheidung in Leipzig, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 213–223.

Evaluierung der Institutionen und Maßnahmen zur Erinnerung an die Friedliche Revolution vom Herbst 1989 in Leipzig (2014–2023); Leitung: Detlev Brunner, Judith Kretzschmar, Dirk van Laak, Rüdiger Steinmetz; bearbeitet von Lisa Weck und Mike Meißner; studentische Hilfskräfte: Friederike Urban, Melanie Weinreich, Leipzig 2024, in: www.leipzig.de, URL:
https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/01.1_Geschaeftsbereich_OBM/12_Ref_Kommunikation/Herbst_89/Evaluierungsbericht_Friedliche_Revolution.pdf[TR6]  [eingesehen am 22.08.2025].

 

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